Sie kommen, um zu bleiben
von Erik Raidt, 09.11.2015 – Stuttgarter Zeitung
Stuttgart Ein Haus an der Paulinenstraße, der Blick geht auf die Autos, die über den Cityring rauschen. Auf fünf Stockwerken wohnen Eritreer, Iraker, Syrer und Jesiden, hier leben 17-Jährige, die sich allein nach Stuttgart durchgeschlagen haben und Familien. Eine junge Mutter trägt ihren Sohn auf dem Arm, grüßt freundlich und erzählt in wenigen Sätzen von ihren Zukunftsträumen. Schon früher sind Menschen aus aller Welt ins Haus gekommen, es war ein Hostel für Rucksackreisende, für die Stuttgart eine Zwischenstation war. Heute beherbergt das Haus an der Paulinenstraße 75 Menschen, von denen viele hoffen, dass Stuttgart ihre Zukunft ist, die sich hier ein neues Leben aufbauen wollen.
So viele Besucher wie selten zuvor nehmen an diesem Samstagmorgen am Stadtspaziergang teil, den die Stiftung Geißstraße gemeinsam mit der Stuttgarter Zeitung veranstaltet. Sie stehen im früheren Hostel, das heute eine von inzwischen 90 Flüchtlingsunterkünften ist. ‘Wie wir heute die Flüchtlinge human unterbringen können, ist das Megathema überhaupt’, sagt Michael Kienzle, der Vorstand der Stiftung Geißstraße. Zum Stadtspaziergang hat er Stefan Spatz eingeladen, dessen Arbeit mit darüber entscheidet, ob die organisatorische Herausforderung bewältigt werden kann: Spatz leitet das städtische Sozialamt.
Zahlen sagen nicht alles aus, aber manchmal sagen Zahlen viel. ‘Vor einem Jahr bekamen wir in Stuttgart 153 Flüchtlinge im Monat zugewiesen, heute sind es rund 1200’, erklärt Stefan Spatz. Derzeit lebten in der Stadt insgesamt 5400 Flüchtlinge, ‘am Ende des Jahres werden es voraussichtlich 8000 sein’. Voraussichtlich. Für Stefan Spatz ist die Ungewissheit darüber, wie viele Flüchtlinge wann und wo genau in der Stadt ankommen in den vergangenen Monaten zu einer Konstante in seiner Arbeit geworden. Als in den 1990er-Jahren das ehemalige Jugoslawien zerfiel, kamen ebenfalls viele, die Schutz gesucht haben. ‘Doch das war nichts im Vergleich mit jener Dynamik, die wir derzeit erleben, wir können heute maximal für vier Wochen im Voraus planen.’
In vier Wochen kann schon wieder alles ganz anders sein. Was in vier Jahren sein mag, weiß keiner, nur eines ist gewiss: Nach der Frage der kurzfristigen Unterbringung der Flüchtlinge stellt sich die Frage, wie diese integriert werden können. Spatz, seit Jahrzehnten ein Profi beim Management von Flüchtlingsfragen, sagt lapidar: ‘Wir wissen, dass am Ende sehr wenige Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer zurückkehren werden.’ Die Besucher des Stadtspaziergangs wollen mehr über Sprachkurse wissen, darüber, wie es mit der Betreuung von alleinreisenden minderjährigen Flüchtlingen aussieht und darüber, wie es angesichts der ohnehin bestehenden Wohnungsnot gelingen kann, die Flüchtlinge langfristig unterzubringen.
Es sei das Ziel, die Flüchtlinge möglichst schnell aus den Unterkünften herauszubringen und ihnen in der Stadt dezentral Wohnraum zu organisieren, sagt der Leiter des Sozialamts. ‘Doch der Wohnungsmarkt in Stuttgart ist erschöpft.’ Erst nach einer Stunde geht es an diesem Samstag weiter beim Stadtspaziergang, von der Paulinenstraße ins Heusteigviertel.
Im Szenebezirk steht an einer Kreuzung ein Haus wie viele andere, auch hier leben Flüchtlinge, ‘aber das fällt in der Nachbarschaft kaum auf, die Menschen, die hier leben, sind integriert’, erzählt Veronika Kienzle, die Bezirksbürgermeisterin von Stuttgart-Mitte. So wie an diesem Ort solle es im Idealfall überall in der Stadt funktionieren: kleine Unterkünfte und keine großen Zentren, die abgeschottet vom Leben in ihrer Umgebung seien. ‘Das Haus steht exemplarisch für das Stuttgarter Modell’, sagt Veronika Kienzle. Doch derzeit kann die Stadt wenig für den Idealfall planen, sie plant für die nächsten Tage und Wochen.