Opfer fühlen sich bis heute nicht gewürdigt

von Thomas Faltin, 14.03.2014 – Stuttgarter Zeitung

Brandkatastrophe Geißstraße 7: Feuerwehr am Dach
Für acht von den in den Flammen eingeschlossenen Bewohnern in der Geißstraße kommt aber jede Hilfe zu spät: Eine 24-jährige Deutsche und deren zweijährige Tochter, eine 27-jährige schwangere Türkin und deren vierjährige Tochter sowie ein 60-jähriger Kroate und seine 55-jährige Ehefrau können nur tot geborgen werden. Eine 57 Jahre alte Jugoslawin verfehlt das Sprungtuch und stürzt in den Tod. © factum/Weise
Brandkatastrophe Geißstraße 7: Einsatzleiter Feuerwehr
Als Feuerwehr, Polizei und Sanitäter am Morgen des 16. März 1994 um 3.36 Uhr an dem von mehr als 50 Menschen bewohnten Gebäude Geißstraße 7 eintreffen, spielen sich dort dramatische Szenen ab. © factum/Weise
Brandkatastrophe Geißstraße 7: Polizei
Den Beamten bietet sich nach dem 16. März 1994 ein schreckliches Bild in der Geißstraße am Hans-im-Glück-Brunnen mitten in der Stuttgarter Innenstadt. © Michael Steinert
Brandkatastrophe Geißstraße 7: Trauerkarte
... gedenken der Opfer mit Trauerkarten. © Michael Steinert
Brandkatastrophe Geißstraße 7: Blumen
Viele Stuttgarter legen am Ort der Katastrophe Blumen nieder oder ... © Michael Steinert
Brandkatastrophe Geißstraße 7: Ausgebrannter Dachstuhl
Die Ermittlungen des von der Stuttgarter Hofbräu AG an einen Gastwirt verpachteten Hauses konzentrieren sich auch auf die Frage, ob illegale Mietverhältnisse und nicht genehmigte Umbauten zu der hohen Zahl von Todesopfern geführt haben. Von den etwa 50 in dem Gebäude wohnenden Personen waren nur 27 gemeldet. Die Brauerei weist den Vorwurf des Mietwuchers zurück, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergeben keine Verdachtsmomente. © factum/Weise

Stuttgart – Es waren Stunden, die keiner der Bewohner, Feuerwehrleute und Passanten je in seinem Leben vergessen wird. Das Treppenhaus der Geißstraße?7 stand in den frühen Morgenstunden des 16.?März 1994, gegen 3.30 Uhr, in hellen Flammen – alle etwa 50 Menschen im Gebäude waren gefangen. Menschen ersticken im Rauch, manche klammern sich an die Fenstersimse, eine 57-jährige Frau springt in Panik neben das Sprungtuch, das die Feuerwehr ausgebreitet hat. Sie ist sofort tot. Erst als Drehleitern angelegt werden, gibt es eine Fluchtmöglichkeit.

Erschütternd ist die Bilanz dieser größten Brandkatastrophe in Stuttgart seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind im Haus umgekommen: eine 24-jährige Deutsche und ihre zweijährige Tochter, eine 27-jährige Türkin und ihre vierjährige Tochter sowie ein 60-jähriger Kroate und dessen 55-jährige Ehefrau. Zwei Tage später wird klar: Die junge Türkin war schwanger – auch ihr ungeborenes Kind gehört zu den Opfern.

Pächter werden wegen überhöhter Mieten verurteilt

Erschütternd waren auch die Zustände, die in dem Haus geherrscht haben müssen. Offiziell waren 27 Menschen in der Geißstraße?7 gemeldet, vermutlich lebten dort aber bis zu 50 Personen, vor allem Ausländer in ärmlichen Verhältnissen. Teils sollen sie bis zu 400?Mark für ein Zimmer bezahlt haben, schnell war von Mietwucher die Rede. Die Stuttgarter Hofbräu?AG, der das Haus gehörte, hatte es an eine Person verpachtet, die Wohnungen und Zimmer aber jemand anderen weiter vermietete. Die beiden Männer wurden drei Jahre später wegen der hohen Mieten zu Geldstrafen verurteilt. Die Gutachter widersprachen sich, ob es sich tatsächlich um Mietwucher gehandelt hat oder nicht.

Bis heute gebe es in Stuttgart eine verfestigte Armut, sagt Asylpfarrer Werner Baumgarten. Was ihn mehr umtreibt, ist aber etwas anderes: Die Überlebenden der Katastrophe seien nie richtig gewürdigt, geschweige denn entschädigt worden – und darunter litten die Opfer bis heute. Baumgarten hatte und hat Kontakt zu drei Personen, darunter jenem Mann, der seine schwangere Frau und seine kleine Tochter verloren hat. Er habe nie wieder richtig Fuß gefasst, erzählt Werner Baumgarten, und sei tief gekränkt. Beim Brandanschlag in Solingen 1993 sei der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu den Opfern gekommen. In Stuttgart – nichts.

Michael Kienzle, der geschäftsführende Vorstand der Stiftung Geißstraße?7, könnte sich vorstellen, dass es damals ein tragisches Missverständnis gegeben hat. Schon drei Wochen nach dem Brand war die Idee aufgekommen, eine Stiftung in dem Haus zu gründen, die den interkulturellen Dialog fördert – viele hätten wohl gedacht, diese Stiftung würde sich dann schon um die Opfer kümmern. „Doch dazu waren wir nicht in der Lage“, sagt Kienzle: „Wir hatten nicht das Geld dazu, und wir bekamen nicht einmal die Namen der Überlebenden.“

Im Jahr 1996 erhält der Brandstifter 15 Jahre Haft

Hinzu kam, dass schnell klar war, dass das Feuer zwar jemand gelegt hatte, es aber keinen ausländerfeindlichen Hintergrund gab. An der Tragik für alle Beteiligten änderte das nichts, das bundesweite Interesse aber war geringer. Der Täter wurde im Juli 1995 eher per Zufall gefasst: Die Polizei kam einem psychisch kranken 25-Jährigen auf die Schliche, der in Esslingen sieben Brände gelegt hatte. Er gestand die Brandstiftung im Gebäude Geißstraße 7, widerrief aber. Doch wurde er zu 15 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Ob er heute frei ist, bleibt unklar.

Die Hofbräu AG hat gleich 1994 das Gebäude als Schenkung in die Stiftung eingebracht. Die Wohnungen im Haus werden von der Stiftung an sozial schwache Menschen vergeben. Von den Mieten und den Pachteinnahmen der Gaststätte im Erdgeschoss lebt die Stiftung: „Damit halten wir uns über Wasser“, so formuliert es Kienzle. Der Etat reicht aber für 30?eigene Veranstaltungen im Jahr. Mit einem der aktuellen Projekte ist man zur Grundidee der Stiftung zurückgekehrt. Es werden gerade Fahrräder für Flüchtlinge gesammelt, die neu nach Stuttgart kommen. 200 Räder gibt es schon. „Eine Geste des Willkommens“ soll es sein, so Kienzle.