60 Flüchtlinge haben am Freitag vor dem Cannstatter Bahnhof ein Rad bekommen.
von Maira Schmidt, 14.04.2014 – Stuttgarter Zeitung
60 Flüchtlinge haben am Freitag vor dem Cannstatter Bahnhof ein Rad bekommen.
Für Vanessa ist es ein besonderer Tag. ‘Ich hatte noch nie ein eigenes Fahrrad’, erzählt die Zehnjährige. Seit vier Jahren lebt das Mädchen aus Ghana in Stuttgart, in der Flüchtlingsunterkunft an der Burgstallstraße.
Etwa 60 Fahrräder wurden am Freitag vor der Fahrradwerkstatt der Neuen Arbeit am Cannstatter Bahnhof an Flüchtlinge aus dem Stadtgebiet übergeben. Die Stiftung Geißstraße 7 hat das Projekt ‘Fahrräder für Flüchtlinge’ ins Leben gerufen ( wir haben darüber berichtet ). Unterstützt wird die Aktion von dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC), dem Sozialamt, dem Förderverein Kinderfreundliches Stuttgart und dem Sozialunternehmen Neue Arbeit.
In den vergangenen Wochen haben die Initiatoren Stuttgarter Bürger dazu aufgerufen, Fahrräder zu spenden. Mitarbeiter der Neuen Arbeit haben diese anschließend repariert und verkehrstauglich gemacht. Die Aktion sei sehr gut angenommen worden. Mehr als 260 Menschen hätten sich gemeldet, um ihr Fahrrad zu spenden, berichtete Michael Kienzle, der geschäftsführende Vorstand der Stiftung Geißstraße 7, bei der Übergabe der ersten 60 Räder am Freitag.
Die Zahl der Flüchtlinge wird in der Landeshauptstadt in diesem Jahr deutlich ansteigen. Die Stadt rechnet mit rund 1300 weiteren Asylanträgen. Das Fahrrad soll laut Kienzle ein ‘Medium der Fremdenfreundlichkeit sein’. Man wolle den Asylbewerbern auf diese Weise zeigen, dass sie in der Stadt willkommen seien. ‘Wir wollen, dass die Flüchtlinge in Stuttgart dazugehören’, betonte auch Stefan Spatz, der stellvertretende Leiter des Sozialamtes. Roswitha Wenzl, die Geschäftsführerin des Fördervereins Kinderfreundliches Stuttgart, fügte hinzu, dass es wichtig sei, den Flüchtlingskindern ‘nicht einfach ein Fahrrad in die Hand zu drücken’. Zum Drahtesel gab es deshalb nicht nur einen Helm, eine Warnweste und ein Fahrradschloss dazu, es sollen auch gemeinsame Radtouren und Sicherheitstrainings mit der Polizei organisiert werden.
Welche Asylbewerber die ersten 60 Fahrräder geschenkt bekamen, hatte das Sozialamt den Betreuern in den einzelnen Flüchtlingsunterkünften überlassen. Man habe die Bewohner ganz einfach gefragt, wer Interesse habe und Fahrrad fahren könne, sagte Bernd Kroll. Er kümmert sich im Auftrag der Caritas um die Flüchtlingsunterkunft an der Burgstallstraße im Stuttgarter Süden, in der auch die zehnjährige Vanessa aus Ghana wohnt. Bernd Kroll begrüßt das Projekt ‘Fahrräder für Flüchtlinge’ ausdrücklich. Mit einem eigenen Fahrrad sei es für die Asylbewerber deutlich einfacher, am Wochenende in die Stadt oder unter der Woche zu ihrem Sprachkurs zu kommen. Der Caritas-Mitarbeiter kann sich auch vorstellen, innerhalb der Flüchtlingsunterkunft kleinere Radtouren zu organisieren. Hinzu komme, dass die Pflege und Reparatur der Räder eine weitere Beschäftigungsmöglichkeit für die Flüchtlinge sei. Denn viele haben noch keine Arbeitserlaubnis.
‘Bus- und Bahnfahren ist in Stuttgart sehr teuer’, meint Salome Gunsch, die sich als Sozialarbeiterin um die Bewohner der Flüchtlingsunterkunft an der Tunzhofer Straße in Stuttgart-Nord kümmert und das Projekt ebenfalls gutheißt. Durch die Fahrräder seien die Flüchtlinge mobiler, könnten zum Arzt oder in die Stadt fahren. Wo sie zuerst mit ihrem neuen roten Fahrrad hinfahren will, weiß Vanessa noch nicht. Fahrrad fahren kann die Zehnjährige aber schon, bisher musste sie sich hierfür allerdings immer ein Fahrrad von Freunden ausleihen. Von nun an geht es mit dem eigenen Drahtesel auf Entdeckungstour.
Die 60 Fahrräder, die am Freitag an Vanessa und die anderen Flüchtlinge übergeben wurden, sollen nur der Auftakt für ein dauerhaftes Spendenprojekt sein. Die Stiftung Geißstraße will sich allerdings Stück für Stück daraus zurückziehen. Die notwendigen Strukturen seien nun geschaffen, sagte Kienzle. Damit haben die Stuttgarter auch in Zukunft die Möglichkeit, mit einem alten Fahrrad einen neuen Bewohner der Stadt willkommen zu heißen.