Einsatz, der unter die Haut ging
von Andrea Eisenmann, 14.03.2014 – Schwäbisches Tagblatt
Vor 20 Jahren – am 16. März 1994 – starben bei einen Großbrand in der Geißstraße in Stuttgart sieben Menschen, 16 wurden schwer verletzt. Zwei Feuerwehrmänner erinnern sich an die Katastrophe.
Es gibt viele Bilder und Eindrücke, an die sich Uwe Hörner erinnert, wenn man den Feuerwehrmann nach dem Brand in der Geißstraße vor 20 Jahren fragt. Die vielen Bewohner beispielsweise, die sich an den Fenstern drängten, die Hilfeschreie, das hölzerne Treppenhaus, das lichterloh brannte, oder das Auto, das die Zufahrt versperrte und erst entfernt werden musste. Am 16. März 1994 ereignete sich in der Stuttgarter Innenstadt die schwerste Brandkatastrophe seit Kriegsende, sieben Menschen kamen ums Leben, zwei Kinder waren darunter. 16 Personen wurden durch das Feuer zum Teil schwer verletzt. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis die Tragödie aufgeklärt werden konnte.
Rückblende: Die Nacht des 16. März 1994 verläuft zunächst ruhig in der Feuerwehrleitstelle. Eugen Völlm, der in den frühen Morgenstunden Schicht in der Einsatzzentrale hat, nutzt die Zeit, um Pläne einzuordnen. Gegen 3.30 Uhr geht ein Notruf ein. “Hallo, beim Hans-im-Glück-Brunnen brennt es”, teilt ein Anrufer aus einer Telefonzelle mit. Mehr sagt er nicht. Als Völlm Näheres wissen will, legt der Unbekannte auf.
Der heute 51-Jährige nimmt Kontakt zu seinem Schichtführer auf, Sekunden später klingelt es erneut. In der Nähe des Wilhelmsplatzes sehe er einen Flammenschein, lautet die Nachricht eines weiteren Anrufers. Wo genau, wisse er aber nicht. Völlm reagiert und verständigt die Feuerwache 1 in der Heusteigstraße. Ein Löschzug mit 16 Mann macht sich auf den Weg. Wenige Augenblicke später, ein weiterer Anruf. Dieses Mal hat ein Mann ein Feuer in der Nähe der Eberhardstraße gesehen. Auch die Polizei meldet sich in der Einsatzzentrale und gibt den genauen Standort des Feuers durch: Es brenne in einem Mehrfamilienhaus in der Geißstraße.
Die nächsten Minuten sind jene, die Völlm am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben sind. Auf dem Polizeikanal gibt eine Beamtin einen ersten Lagebericht ab. Es geht nicht nur um das, was die Frau sagt, sondern auch um das, was deutlich über das Funkgerät zu vernehmen ist: verzweifelte Schreie und das laute Knacken des Feuers. “Das habe ich so vorher und später nie wieder gehört. Noch heute bekomme ich beim Gedanken daran eine Gänsehaut.” Eugen Völlm reagiert und erhöht die Alarmstufe. Ein weiterer Löschzug rückt Richtung Geißstraße aus.
Brandmeister Uwe Hörner liegt im Ruheraum der Feuerwache 1, als der Alarm eingeht. Er ist bereits wach – wenige Minuten zuvor ist ein Kollege zu einem kleineren Brand im Stuttgarter-Osten ausgerückt. Alles läuft ab wie immer, keiner ahnt, was ihn in der Geißstraße erwartet. Hörner gehört zu der Besatzung des Tanklöschfahrzeugs – es ist das dritte Fahrzeug im Konvoi, geparkt wird es zunächst in der Steinstraße. Es sind mehrere Eindrücke, die er beim Blick auf das brennende Gebäude zunächst registriert: Aus jeder noch so kleinen Öffnung des denkmalgeschützten Jugendstilbaus dringt Qualm heraus, an jedem der vielen Fenster drängeln sich verzweifelte Menschen, ihre Gesichter sind bereits von Ruß geschwärzt. “Sprungretter”, fordert der Einsatzleiter angesichts des komplett in Flammen stehenden Treppenhauses an, das Hörner mit einer “Fackel” vergleicht.
Für die Einsatzkräfte wird es ein Wettlauf mit der Zeit. Mit Drehleitern und Sprungkissen wickeln sie die Rettungsarbeiten ab. Dabei ereignet sich ein weiteres tragisches Unglück: Eine 57-jährige Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien trifft das rettende Sprungkissen nicht richtig, wird weggeschleudert und landet auf dem Pflaster. Sie ist sofort tot. Auch für sechs weitere Bewohner kommt die Hilfe zu spät. Darunter eine schwangere Türkin mit ihrer vierjährigen Tochter, ein 60-jähriger Kroate und seine 55-jährige Ehefrau, eine 24-jährige Deutsche sowie ihre zweijährige Tochter. Die 16 Schwerverletzten werden in umliegende Krankenhäuser transportiert. Am frühen Morgen endet die Schicht für Hörner und Völlm. Es wird später noch eine Gesprächsrunde geben, bei der sich die Beteiligten über den Einsatz unterhalten. Zwei altgediente Kollegen der Feuerwache, erinnert sich der heute 56-jährige Hörner, saßen damals am Tisch und weinten.
In den folgenden Tagen und Wochen werden immer neue Details bekannt – unter anderem zu den dubiosen Wohnverhältnissen und verschiedenen Fällen von Mietwucher. Fast 50 Personen unterschiedlicher Nationen hatten in dem Gebäude auf engstem Raum nebeneinander gelebt, ein Teil der Personen war nicht angemeldet. Auch die Frage, ob nicht genehmigte Umbauten die Katastrophe ausgelöst haben, wird untersucht.
Es dauert fast ein Jahr, bis die Brandkatastrophe aufgeklärt werden kann. Am 30. Juni 1995 wird ein 25-jähriger Mann in Esslingen verhaftet, der 17 Brandstiftungen einräumt. Seine Vorgehensweise lässt die Ermittler aufhorchen. Könnte der Mann auch für das Inferno in der Geißstraße verantwortlich sein? Nach anfänglichem Zögern legt der Mann ein umfangreiches Geständnis ab, das er später widerruft. Nichtsdestotrotz, stellt der Richter fest, habe er Details erwähnt, die nur der tatsächliche Täter wissen konnte. 15 Jahre Haft lautet am Ende das Urteil. Zwei Jahre nach dem Brand wird 1996 die Stiftung “Geißstraße 7” gegründet, in die das renovierte Gebäude von seinem früheren Besitzer, der Stuttgarter Hofbräu AG, eingebracht wird. Ziel der Stiftung ist die Förderung des interkulturellen Verständnisses, des friedlichen Zusammenlebens und der bürgerschaftlichen Verantwortung.
Die Brandkatastrophe in der Geißstraße 7, sagt Eugen Völlm, war ein Einsatz, der unter die Haut ging und von denen man in einer jahrzehntelangen Laufbahn nur wenige hat. Und dennoch, auch die kleineren Einsätze bleiben präsent.
Die Stiftung Geißstraße 7 lädt am Sonntag, 16. März, um 18.30 Uhr auf den Platz vor dem Gebäude ein. Der Vorsitzende des Stiftungsrates, Klaus-Peter Murawski, und Stuttgarts OB Fritz Kuhn werden dort sprechen. Mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Schlosskirche erinnern die evangelische und die katholische Kirche um 13 Uhr an den Brandanschlag.