Die Kraft des Gedenkens
von Holger Gayer, 15.03.2014 – Stuttgarter Zeitung
Kolumne
Morgen jährt sich die Brandkatastrophe an der Stuttgarter Geißstraße zum zwanzigsten Mal. Das gibt Anlass zu grundlegenden Gedanken.
Wer ist eigentlich auf die absurde Idee gekommen, dass man den Tag und das All zu einem Wort von höchst fragwürdiger Bedeutung zusammensetzen könnte? Alltag! Was ist Alltag? Ein Tag wie jeder andere? Hoffentlich nicht. Denn gäbe es ihn im Wortsinne wirklich, diesen Tag, der ist wie jeder andere, wäre das ein Horrorszenario von unvorstellbarem Ausmaß. Der Mensch bliebe zeitlebens auf dem Stand, den er am Ende seiner ersten 24 Stunden auf der Welt erreicht hätte, weil jeder folgende Tag seines Lebens ablaufen müsste wie der erste. Ein alltäglicher Geburtstag wäre das – bis zum ersten Tag, der anders verliefe als die anderen; das wäre dann der Todestag.
Zum Glück ist das wirkliche Leben schlauer als der Mensch, der sich seltsame Wörter ausdenkt. Es gibt keinen Alltag. Jeder Mensch empfindet jeden Tag auf seine eigene Weise: Während der eine schlecht gelaunt zur Arbeit trottet, freut sich der Zweite frisch verliebt an den Schmetterlingen im Bauch, der Dritte trauert um einen Angehörigen. Jeder sieht, hört, riecht oder schmeckt jeden Tag etwas, was er genau so noch nie gesehen, gehört, gerochen oder geschmeckt hat.
Doch neben dem individuellen Erleben haben manche Tage auch eine kollektive Bedeutung: Am 11. September haben viele Menschen jene Flugzeuge vor dem geistigen Auge, die 2001 ins World Trade Center gekracht sind. Der 9. November ist für uns Deutsche doppelt besetzt: mit der Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 und an den Mauerfall 1989. In der zu Ende gehenden Woche lag der 11. März mit dem Gedenken an gleich drei grausige Ereignisse: an den Tsunami mit anschließender Kernschmelze in dem Atommeilern von Fukushima vor drei Jahren, an den Amoklauf von Winnenden und Wendlingen mit 16 Toten vor fünf Jahren, an den Bombenanschlag von Madrid mit 191 Toten und weit mehr als 2000 Verletzten vor zehn Jahren.
Aber warum speichert das kollektive Gedächtnis der Menschen so oft das Böse und nur selten das Gute? Vielleicht weil man mit dem Guten viel persönlicher steht als mit dem Bösen. Hochzeiten, Geburten, Taufen sind Daten, die man nur mit wenigen teilt. Der Tod ist allgemeiner. Er tritt bei Unfällen und Attentaten häufig im Plural auf – und hat daher auch eine größere Gemeinde, die seiner gedenkt. Geschieht ein Unglück, sind die Menschen im Schock vereint. Es gibt kaum ein verbindenderes Gefühl als die gemeinsame Trauer.
‘Erinnert wird, was als auffällig wahrgenommen wurde, was einen tiefen Eindruck gemacht hat, was als bedeutsam erfahren wurde. Emotionen sind die Aufmerksamkeitsverstärker, die auch zur Stabilisierung der Erinnerung beitragen’, schreibt Aleida Assmann in einem Aufsatz über das soziale und kollektive Gedächtnis der Menschen. Die Professorin für Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz gilt international als eine der renommiertesten Theoretikerinnen der kulturellen Erinnerung. Am morgigen Sonntag spricht sie in Stuttgart. Anlass ihres Besuchs ist der zwanzigste Jahrestag der Brandkatastrophe in der Geißstraße 7. Sieben Menschen sind an jenem 16. März 1994 getötet worden, viele weitere wurden verletzt, manche leiden noch heute unter den traumatischen Erlebnissen.
Aleida Assmann kommt auf Einladung der Stiftung Geißstraße nach Stuttgart. Die Stiftung hat sich nach der Brandkatastrophe gegründet. ‘Sie versucht seitdem, die interkulturelle Verständigung und den Umgang mit unserer Stadtgeschichte zu fördern’, heißt es in der Einladung zum morgigen Gedenken. Wie wichtig das ist, spüren wir an jedem einzelnen Tag. Schön, dass es Menschen gibt, die diese Arbeit tun.