Die gesperrte Ikone
von Inge Jacobs, 17.11.2014 – Stuttgarter Zeitung
Stuttgart – Wer direkt vor ihm steht, kann ihn leicht übersehen: den Fernsehturm. Seine Wirkung entfaltet er erst aus einer gewissen Distanz. Deshalb führt der Mathematiker Bertram Maurer die Teilnehmer der Veranstaltungsreihe „Stadtspaziergang“, die von der Stiftung Geißstraße und der Stuttgarter Zeitung veranstaltet wird, zunächst weg vom Treffpunkt. Und tatsächlich: mit 200 Metern Abstand präsentiert sich Stuttgarts Wahrzeichen in seiner ganzen Eleganz. Diese zeigt sich nicht nur in den besonderen Proportionen von Schaft und Kopf, sondern auch durch seine konstruktionstechnische Besonderheit. Von dieser können sich die Teilnehmer durch eine Besichtigung des begehbaren, nur acht Meter tiefen Fundaments aus ebenfalls ein Bild machen.
Der zweite Fluchtweg fehlt seit 57 Jahren
Nur die Fahrt nach oben, die ist nicht vorgesehen, leider. „Können wir nicht doch?“, fragt eine Dame, als es im Aufzug nach unten geht. Nein. Das geht nicht. Denn am 28. März ließ OB Fritz Kuhn (Grüne), kaum dass er im Amt war, den Turm sperren – „wegen Gefahr im Verzug“, berichtet Siegfried Dannwolf, Geschäftsführer der SWR Media Services GmbH, der von der Maßnahme erst über die Presse erfuhr. Kuhns Begründung, die Fluchtwege seien nicht sicher, weil ein zweiter Fluchtweg fehle, findet Dannwolf „nicht erhellend, weil der zweite Fluchtweg fehlt seit 57 Jahren – aber das war immer bekannt“. Und man habe den Brandschutz stets auf neuestem Stand gehalten und erst 2010 eine Million Euro in Nachrüstung investiert. So gibt es nicht weniger als 300 Brandschutzmelder.
Im Januar soll mit den Maßnahmen begonnen werden
Inzwischen habe man sich mit der Stadt auf 80 weitere Maßnahmen geeinigt, vor allem auf ein Einhausen der Kabel im Schaft. Die Baugenehmigung liege seit wenigen Wochen vor. „Wir gehen davon aus, dass im Januar mit den Maßnahmen begonnen wird“, sagt Dannwolf. Die Wiedereröffnung sei für Oktober 2015 geplant. Dass die Stadt die durch die Konkretisierung auf 1,7 Millionen Euro gestiegenen Baukosten nur mit 600?000 Euro mittrage – durch Verzicht auf den Erbpachtzins – enttäusche ihn. Denn es gehe doch um das Stuttgarter Wahrzeichen, davon profitiere doch auch die Stadt. Mit drei der zwölf Bewerber für die Gastronomie im Erdgeschoss, Biergarten und oben im Turm führe man Gespräche, auch Kulturveranstaltungen sollen künftig wieder stattfinden.
So positiv, wie der Fernsehturm heute von fast allen Menschen wahrgenommen werde, sei es nicht immer gewesen, berichtet Maurer. „Einen Schornstein mit Café – sowas gab’s vorher nicht.“ Nach anfänglicher Skepsis, hauptsächlich in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit, stimmte der Gemeinderat 1954 zu. Dass aus dem im Jahr zuvor gestellten Bauantrag des Süddeutschen Rundfunks (SDR) für einen Gittermast überhaupt ein Fernsehturm wurde, ist dem Stuttgarter Ingenieur Fritz Leonhardt zu verdanken, der hierfür Techniken aus dem Brückenbau anwendete. Mit vorgespanntem Stahlbeton hatte er auch die Rosensteinbrücke und viele andere gebaut.
1968 wurde ein Küchenbrand mit Bier und Cola erstickt
Dass die FAZ den Fernsehturm einst als „Protzstengel“ kritisierte, focht die Stuttgarter nicht an. Stolz führten sie Queen Elisabeth und Jassir Arafat hoch. Auch Zwischenfälle wie 1968, als ein Küchenbrand im Turm mangels Löschwasser mit Bier und Cola erstickt wurde, oder das Stehenbleiben beider Aufzüge brachte die Stadtverwaltung nicht aus der Ruhe. Noch 1998 erklärte sie: „Der Turm ist sicher.“ Einen Brand wie im Jahr 2000 im Moskauer Fernsehturm mit vier Toten hätte es, so Maurer, in Stuttgart so nicht geben können, da hier im Unterschied zu Moskau praktisch kaum noch Brennbares im Turm sei. Auch die Turmküche sei in Stuttgart 2005 entfernt worden. Auf seine Anfrage beim städtischen Presseamt, wie es eigentlich zu der offensichtlich veränderten Risikoeinschätzung gekommen sei, habe er bis heute keine schriftliche Antwort bekommen, berichtet Maurer.
Das Fundament des Turms mit einer Verspannungstechnik in der Art einer großen Fahrradspeiche – damals eine Weltneuheit – nötigt dem Cheftechniker Matthias Buck auch heute noch Respekt ab: „Da hat man sich damals ganz schön was getraut. Aber er ist noch nie umgefallen.“ Apropos: auch als Heiratsort sei der Turm beliebt – „allerdings auch ohne Garantie“.