Auf den Spuren der Reformatoren
von Sybille Neth , 18.07.2016 – Stuttgarter Zeitung
Die Theologin Monika Renniger schlägt beim Stadtspaziergang der Stiftung Geißstraße und der Stuttgarter Zeitung den Bogen zwischen der vor 500 Jahren formulierten neuen Auffassung eines christlichen Selbstverständnis und den heutigen Herausforderungen.
Den Spuren der Reformation begegnet man an vielen Stellen in Stuttgart. Sie sind so zahlreich, dass die zwei Stunden für den dritten Themenspaziergang der Stiftung Geißstraße und der Stuttgarter Zeitung gar nicht ausreichten, alle Wirkungsstätten der Reformatoren zu besuchen. Für den erkrankten Stadtdekan Søren Schwesig war die Leiterin des Bildungszentrums Hospitalhof, Monika Renninger, eingesprungen. Sie versorgte die Teilnehmer mit einer Fülle historischer Informationen und spannte den Bogen zu aktuellen Fragen, denen sich die christlichen Kirchen stellen müssen.
Kirchenmusik als Erbe der Reformation
Bildung, Toleranz und soziales Engagement seien die Grundpfeiler des reformatorischen, christlichen Selbstverständnisses – obwohl Martin Luther diese Werte nicht alle verkörperte. „Wir dürfen seine hoch aggressive Judenschriften nicht verschweigen“, sagte Renninger. Zu den Orgelklängen des Stiftskantors Kay Johannsen betraten die Teilnehmer die Kirche – das Symbol der Reformation schlechthin. 2017 jähren sich zum 500. Mal Luthers Thesen. „Die Reformation hatte auf die Kultur-und Sozialgeschichte gerade in Württemberg einen extrem prägenden Einfluss“, betonte Renninger. Luther war ein großer Musiker und betrachtete die Kirchenmusik als neue Form der Verkündigung, weil die Christen durch das Musizieren selbst aktiv werden. „Die Kirchenmusik ist ein besonderes Erbe der Reformation“, darauf wies die Leiterin der Führung hin. Neben dem Verfasser vieler Kirchenlieder, Paul Gerhardt (1607-1676), gehörte Johannes Brenz (1499-1570) zu Luthers musikalischem Freundeskreis. Brenz, dessen Namen die Johannes-Brenz-Schule mit ihrem klassenübergreifenden Unterricht, aber auch die Brenzkirche sowie ein Jugendwohnheim tragen, ist in der Stiftskirche beigesetzt.
Blick in die Schlosskirche
Ein besonderer Leckerbissen war der Blick in die Schlosskirche des Alten Schlosses, die sonst nur für Gottesdienste geöffnet ist. 1562 wurde sie als erste evangelische Kirche geweiht und unter den zahlreichen Köpfen, die ihre Emporen zieren, ist auch der von Paul Gerhardt. Vor dem Portal des Hospitalhofs steht das einzige Reformationsdenkmal, das 1917 von dem Bildhauer Jakob Brüllmann geschaffen wurde. Es zeigt Luther, der zum Himmel aufblickt und Brenz, der grübelnd in ein Buch schaut. Zwischen beiden erhebt sich Jesus.
Allgemeine Schulpflicht in Württemberg
Vor allem aber dem gebürtigen Herrenberger Johann Valentin Andreä (1586 – 1654) und Johannes Reuchlin (1455-1522) widmete Renninger hier, an der Stätte ihres eigenen Wirkens, den inhaltlichen Schwerpunkt. Andreä war in Stuttgart Hofprediger und machte sich nach dem 30-jährigen Krieg einen Namen als Schulpolitiker . Er führte in Württemberg die allgemeine Schulpflicht ein und entwickelte die Idee der idealen Christenstadt. „Wissenschaft und Technik brauchen ethische Korrektoren“, zitierte sie aus seiner Schrift. Mit Johannes Reuchlin verbindet den Hospitalhof heute der Appell für Toleranz gegenüber anderen Religionen. Reuchlin war Humanist und Hebräist. Er kannte die jüdischen Schriften und mahnte: „Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!“
Keimzelle der Jugendarbeit
Zuletzt führte die Theologin ihr eher reiferes Publikum ins Haus 44, das symbolisch für die diakonische Jugendarbeit steht. Karl Sixt Kapff (1805-1879) leistete Pionierarbeit und gab jungen Lehrlingen und Arbeitern, die nach Stuttgart strömten, eine Heimat. Er schuf die bundesweit erste Stelle für einen Jugendpfarrer. „Dies war die Keimzelle der diakonischen Jugendarbeit“, schloss Monika Renninger und erntete großen Applaus für ihren inhaltsreichen Vortrag, der etliche Tipps für weitere, eigene Entdeckungen enthielt.